Am Ende verschwinden zwei Menschen und Kinga Mischa, die Hauptfigur des Romans, findet sich eingeschlossen in einer kleinen Kammer wieder. Vor ihr auf dem Tisch liegen zwei leere Hefte, in denen sie alles aufschreiben soll, was im Laufe des letzten Jahres geschah und das Verschwinden dieser zwei Menschen, ihres Großcousins Bartosz und seiner Freundin Renia, aufklären könnte. Dieses Ende ist der Anfang, denn Kinga setzt sich an den Tisch, nimmt einen Stift und beginnt zu schreiben.
Bartosz und Renia nahmen Kinga am Bahnhof in Empfang, als sie gut ein Jahr zuvor in der Stadt am Meer ankam. Die „Stadt am Meer“ ist unverkennbar Danzig, doch Sabrina Janesch macht mit der Umschreibung deutlich, dass sie einen literarischen Ort geschaffen hat, eine Schwester der real existierenden Stadt. Kinga wollte dort ihre polnische Verwandtschaft, die Familie Mysza, kennenlernen und sich die Wohnung ansehen, die sie unverhofft von ihrem Vater geerbt hatte. Vor seinem Tod wusste sie weder von der polnischen Verwandtschaft noch von der Wohnung. Bis zum Anruf des Notars ging sie davon aus, dass er ihr kaum mehr als einen Bernsteinanhänger hinterlassen hatte, in dem eine Spinne eingeschlossen war.
Bartosz gab sich keine Mühe, sein Missfallen über ihren Besuch zu verbergen. Er begrüßte sie mit einem schnarrenden „Heil Hitler!“. Renia dagegen entpuppte sich als ihre freundlich gesonnene Mitbewohnerin.
Statt sie zu ihrer Wohnung oder zur Wohnung der Verwandtschaft zu bringen, fuhr Bartosz mit ihr und Renia in einen Außenbezirk der Stadt, um ihr das angeblich wahre Gesicht Polens zu zeigen, die soziale Not. Erst danach brachte er sie nach Hause. Dort empfing sie Bartosz Mutter Bronka warmherzig, geradezu überschwänglich. Von ihrem ersten Satz an fragt sich der Leser, ob dieses Verhalten nicht vor allem dazu dient, Kinga zu überzeugen, der Familie Mysza nicht nur die Miete zu überlassen, wie bisher, sondern die Wohnung ganz zu überschreiben. Das hatte Kingas Vater ihnen versprochen.
Die Erbschaft entpuppte sich als Bruchbude, an der Decke breiteten sich Stockflecken aus, der Putz bröckelte, das Parkett war aufgequollen. Doch die neu entdeckte Verwandtschaft machte sich beflissen daran, zu renovieren. Kinga bekam ein Zimmer, das eigentlich an einen gewissen Rokas vermietet war, ein Künstler, der es jedoch so gut wie nie nutzte, wie Renia ihr versicherte.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten rauften sich die polnischen Myszas und die deutsche Mischa zusammen, auch wenn die ungeklärte Eigentumsfrage lange zwischen ihnen schwebte. Kinga arbeitete eine Zeit lang für ein Varieté, in dem Renia als Medium auftrat. Dann bedrängte Bartosz sie, ihm beim Aufbau einer Pfandleihe behilflich zu sein, ein Unternehmen, das auf sehr wackeligen Beinen stand. Und schließlich arbeitete sie zeitweise für Rokas, der ein geheimnisvolles Kunstprojekt in der Stadt am Meer plante.
Zwei weitere Stimmen ergänzen Kingas Geschichte, was dem Roman das gewisse Etwas gibt. Die eine gehört dem Stadtschreiber Tilmann Kröger, der seine Version des Geschehens um Kinga und ihre Verwandtschaft beisteuert. Sie weicht an verschiedenen Stellen deutlich von Kingas Version ab, sodass sich der Leser nie sicher sein kann, was nun wirklich passiert ist. Ein klar definiertes Geschehen, eine Wahrheit gar gibt es in diesem Roman nicht. „Am Ende ist es wie im wirklichen Leben“, sagt Sabrina Janesch in einem Gespräch, das im Anhang zum Leseexemplar abgedruckt ist. „Was wahr ist, kann einem niemand sagen, denn was wahr ist, ist immer auch die Entscheidung jedes Einzelnen. Und das wäre in diesem Fall der Leser.“ So wie Kinga Tilmann Kröger beschreibt, ist der Leser allerdings nicht ganz frei in seiner Entscheidung; Kröger hat keinen guten Stand bei ihr.
Die zweite (mit Kinga ist es die dritte) Stimme gehört der Spinne, die in Kingas Bernstein eingeschlossen ist. Sie erzählt die Geschichte der Familie Mysza/Mischa vom Ende des 19. Jh., als die erste Generation vom Land nach Danzig zieht, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Durch ihre Erzählung erfährt der Leser, wie es zur Trennung der Familie in einen deutschen und einen polnischen Zweig gekommen ist.
Der Bernstein wirkt noch auf andere Weise. Kinga ahnt mehr als sie weiß oder zu glauben bereit ist, dass ihr der Bernsteinanhänger seherische Kräfte verleiht. Seit sie in der Stadt am Meer lebt, hat sie immer wieder das Gefühl, für einen Moment aus dem Fluss der Zeit herauszutreten und neben sich zu stehen, unkontrollierbar, was sie sehr verwirrt. Sie fühlt sich dann in die Köpfe der Menschen versetzt, die ihr begegnen, sodass sie deren Gedanken lesen kann. Auf diese Weise erfährt sie z.B., welches Trauma Bartosz aus dem Einsatz im Irak mitbrachte. Nicht immer gelang es ihr, verantwortungsvoll mit dieser Gabe umzugehen, die deshalb mehr und mehr zur Last wird.
Sabrina Janesch (geb. 1985) studierte Kreatives Schreiben und Polonistik und arbeitete 2009 als Stadtschreiberin in Danzig. „Ambra“, ein anderes Wort für Bernstein, ist ihr zweiter Roman (nach „Katzenberge“). Sie setzt damit den Verwerfungen der deutsch-polnischen Geschichte ein literarisch ansprechendes und unterhaltsames Denkmal und bereitete mir damit ein großes Vergnügen.
Sabrina Janesch: Ambra. Roman. Berlin, Aufbau 2012. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.