Der tschechische Theologe Tomas Halík ist durch zwei Bücher in deutscher Übersetzung mittlerweile auch bei uns bekannt geworden als höchst kreativer Denker, der seinen Lesern scheinbar Altbekanntes aus völlig ungewohnten Perspektiven ganz neu zu erschließen vermag. Auch in seinem neuesten auf Deutsch erschienenen Buch „Berühre die Wunden“ wählt er einen sehr originellen Ansatz, indem er den Evangeliumstext über den „ungläubigen Thomas“ aus einem anderen Blickwinkel betrachtet als gewohnt: Es geht ihm bei dieser Schriftstelle zunächst nicht um den (scheinbar mangelnden) Glauben des Apostels, sondern vielmehr um die Tatsache, dass Christus sich Thomas gegenüber gerade durch seine Wunden als „Herr und Gott“ erweist. Borromäusverein und Sankt Michaelsbund empfehlen das Buch als Religiöses Buch des Monats Juli.
Halík hat keineswegs die Absicht, diese Schriftstelle auf einmal völlig umzudeuten, er fragt jedoch eindringlich, ob wir aus dieser scheinbar so bekannten Szene des Johannesevangeliums nicht auch herauslesen können, dass es uns ebenso wie dem Apostel Thomas nur dann möglich ist, zum Glauben an die Auferstehung zu gelangen, wenn wir zuvor die Wunden Jesu wahrgenommen haben. Es käme dann ganz darauf an, nach dem Karfreitag nicht vorschnell zur Auferstehung weiterzugehen, sondern den Blick auch weiterhin auf die Wunden Christi zu richten, die ja auch nach der Auferstehung sichtbar und berührbar bleiben, um gerade diese als Erkennungszeichen des Auferstandenen zu begreifen. Aber nicht nur Tod und Auferstehung, auch schon die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret kann man an dessen Wunden ablesen: Halík weist darauf hin, dass es die Wunden Jesu sind, die ihn sowohl ganz als Menschen (Pilatus sagt über den Gegeißelten: „Ecce homo!“) wie dann auch als wahren Gott (für den Apostel Thomas) erweisen.
Die Begegnung mit Christus öffnet dem Gläubigen nach Halíks Überzeugung jedenfalls die Augen – für die Wunden Jesu, für unsere Wunden und die Wunden der Welt. Der Blick auf die Wunden des auferstandenen Christus zeigt den Jüngern einerseits, dass sich Gott nicht wie der Besitzer des Weinbergs im Gleichnis an den bösen Winzern rächt, sondern dass er tatsächlich vergibt – die Bitte Jesu am Kreuz „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, ist also offensichtlich erhört worden. Zum anderen können die Wunden Jesu, und damit auch schlechthin alle Wunden, die Jesus ja auf sich nimmt, nicht zuletzt auch die Verwundungen des Glaubens, auch als ein Weg verstanden werden, mit Gott in ein Gespräch zu kommen, sie sind – der Autor greift hier ein Bild von Simone Weil auf – wie die Mauer, die zwei Gefangene voneinander trennt, ihnen aber auch ermöglicht, durch Klopfzeichen miteinander in Kontakt zu treten.
Diese neue Sichtweise auf den verwundeten Christus hat nicht nur Konsequenzen für den Glauben des Einzelnen. Denn dieser Glaube wird nur verwirklicht in der Zuwendung zum Anderen, in dessen Wunden uns Christus selbst begegnen will. Und auch die Kirche selbst erscheint aus dieser Perspektive in einem neuen Licht. Sicherlich verwundert es auf den ersten Blick, wenn der Autor überzeugt ist, dass eine Kirche, die in völliger Heiligkeit und Demut niemandem auch nur einen Anlass zur Empörung geben würde, im Grunde ein raffiniertes Werk des Teufels sein müsste – doch gerade dann müsste man nach Halík eben fragen, wo denn die Wunden am Leib Christi geblieben sind. Auf keinen Fall möchte Halik damit natürlich behaupten, es wäre nicht schlimm, wenn die Kirche verwundet wird, und nicht noch schlimmer, wenn sie selbst Anderen Wunden zufügt, aber er zeigt doch auf, dass man damit ganz einfach rechnen muss und darüber nicht verzweifeln darf, wenn man den verwundeten Christus auch in seiner Kirche erkennen kann – natürlich soll jeder sein Möglichstes tun, die Kirche heiliger zu machen, man muss es aber auch in Geduld und Treue zu Christus aushalten, dass dies auf dieser Welt nie ganz gelingen wird. Es ist die Häresie eines moralischen Idealismus, die himmlische Kirche dort haben zu wollen, wo Gott selbst uns nur die irdische, verletzte und schmutzige Kirche vorsetzt.
Ein wirklich außergewöhnliches Buch, das durch seine radikalen Fragen und konsequenten Überlegungen viele Impulse gibt und sehr nachdenklich werden lässt. Thomas Steinherr/Sankt Michaelsbund
Halík, Tomáš: Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung. Freiburg, Herder 2013. – 240 S.; 19,99 €. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.
(Als „Religiöses Buch des Monats“ benennen der Borromäusverein, Bonn, und der Sankt Michaelsbund, München, monatlich eine religiöse Literaturempfehlung, die inhaltlich-literarisch orientiert ist und auf den wachsenden Sinnhunger unserer Zeit antwortet.)