Eines der letzten großen Abenteuer auf dieser Erde: Tina Uebel berichtet von einem Segeltörn durch die Nordwestpassage und philosophiert dabei über das Leben und die Sehnsucht nach Aufbruch und Abenteuer. !Warnung! Dieses Buch kann Fernweh und Abenteuerlust wecken!
Mein Zug ist längst in Bonn angekommen, die Leute steigen aus, doch ich bleibe noch sitzen und versuche, noch einen Satz, noch einen Abschnitt aus Tina Uebels Reisebericht von der Nordwestpassage zu lesen, bevor ich mich dem Hier und Jetzt stellen muss. Bevor ich ins Büro gehe und Uebels Abenteuer zwischen den Buchdeckeln einstweilen zum Schweigen bringe.
Dabei ist die Geschichte gar nicht so dramatisch. Uebel schildert, wie sie im Sommer 2011 mit einer luxuriös ausgestatteten 20-Meter-Yacht mit zwölf anderen Polarsüchtigen die Nordwestpassage durchsegelte, den Seeweg um Nordamerika herum [hier Erläuterungen und Karten]. Doch die Santa Maria Australis [Link zu Schiff und Eigner], auf der Uebel und ihre Mitreisenden unterwegs waren, fror dabei nicht im Eis fest, wie so viele Schiffe, die sich in den letzten Jahrhunderten auf die Suche nach der Nordwestpassage begaben. Kein schwerer Sturm brachte sie in Seenot, sie litten keinen Hunger – im Gegenteil! – und drohten nicht an Skorbut zu erkranken. So what else?
Auch ohne Seenot und Hunger umweht das Unternehmen ein Hauch von Abenteuer und selbst im Zeitalter von GPS und Satelliten, denen nichts entgeht, bleibt Segeln in diesen Breiten – und nicht nur in diesen – schlicht gefährlich. Das wird gleich zu Beginn der Reise deutlich, als Uebel während ihrer Wache einem Eisberg zu nahe kommt. Außerdem ist da der Geruch von Freiheit und Unabhängigkeit, der von Uebels Bericht ausgeht. Wobei ich Unabhängigkeit gleich wieder relativieren muss, denn natürlich sind Uebel und ihre Mitreisenden abhängig, sie benötigen Diesel und Lebensmittel und müssen die Nordwestpassage in einem bestimmten Zeitfenster durchsegeln, um nicht vom Eis eingeschlossen zu werden. Aber die kleine Unabhängigkeit bleibt, dort vor Anker zu gehen, wo es ihnen (und dem Boot) passt, ein wenig zu bleiben, weil es ihnen gefällt, einfach so eine in der Landschaft stehende Sauna einzuheizen und es sich gutgehen zu lassen. Frei und unabhängig eben.
Und nicht zuletzt fesselt mich die Art und Weise, wie Uebel ihre Leser an der Reise teilhaben lässt. Man steht förmlich neben ihr an Deck, sitzt auf irgendeiner einsamen Insel in der Arktis und freut sich wie ein Schneekönig am Hier und Jetzt. Sie gewährt den Lesern Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt und sinniert über die Sehnsucht nach – ja was?, die sie immer wieder hinaus treibt, die Welt zu entdecken. Vielleicht hat mich das sogar am meisten angesprochen, gehöre ich doch auch zu den Menschen, bei denen schon ein hinreichend großer See (im Urlaub war es der Grevelingen in Zeeland) dieses Ziehen, diese Sehnsucht nach Weite auslöst.
Mit großer Sympathie porträtiert sie ihre Mitreisenden, Kapitän Wolf Kloss, der in Chile heimisch geworden ist und sonst Arktis-Törns anbietet und den Nordwestpassagen-Reise nutzt, um die beiden Amerikas binnen eines Jahres zu umsegeln. Dann die Amerikanerin Shel, mit der Uebel die Kabine teilt und ganz offensichtlich viel Spaß hat, oder John, Stahlarbeiter und Witzeerzähler, den nach dem Törn ein trauriges Schicksal ereilt, das Uebel wütend, sehr wütend macht. Und dann ist da noch der Joghurt, running gag ebenso wie Uebels ganz persönlicher Beitrag zum Wohlergehen der Mannschaft, der seine ganz eigenen Kapriolen schlägt.
Dazu kommt ihre unnachahmliche Sprache, die munter Dialekt-Wörter („duhn“ für angeheitert, z.B.), Slang, selten gewordene Worte („kregel“ für aufgedreht) und die sog. Hochsprache mischt, sich einen Dreck schert um die Konventionen für vermeintlich gute Texte und gerade deshalb einen wunderbar frischen, funkelnden Stil entwickelt, für den allein schon die Lektüre lohnt.
Auch belässt sie es nicht bei dem Reisebericht, sondern erzählt von den verschiedenen historischen Expeditionen, einen Weg durch die Nordwestpassage zu finden, von Tod und Verderben, den das für viele Entdecker bedeutete, von den Entbehrungen, die sie auf sich nahmen. Sie versucht, der Faszination Arktis, dem Bazillus, mit dem sie sich wie so viele Menschen zuvor infiziert hat, auf den Grund zu gehen. Und immer wieder lässt sie sich zu philosophischen Exkursen über Gott, die Welt und das Leben hinreißen, denen der Leser gerne, sehr gerne folgt.
Uebel kann dabei so schön staunen! Sie hat sich eine kindliche Unbefangenheit bewahrt (oder wieder erarbeitet) und sieht die Welt mit großen, neugierigen Augen an. „Mann, ist diese Landschaft leer. In welchem Maße hier Garnichts ist, mein lieber Herr Gesangsverein. Es lässt sich lange am Klippenrand sitzen und einfach nur der Abwesenheit zusehen.“ Sie zitiert Amundsen, der auf diesem Inselchen ebenfalls Station machte, und fährt fort: „In einer lässigen Kurve verbindet ein Kiesband das Wenig Beecheys mit dem Überhauptnichts Devons. Alles Land wie sandgestrahlt, scharf darauf gezeichnet die Schatten der Wolken. Hier muss man wahnsinnig werden oder wahnsinnig glücklich, ich, Pragmatiker, entscheide mich für letzteres.“ (S. 135)
Ich kann dabei nicht umhin (ich weiß, als Theologe bin ich voreingenommen), in solchen Passagen religiöse Züge zu entdecken. Ich will Frau Uebel nicht vereinnahmen, sie bezeichnet sich selbst als Atheistin (hier in einem auf ihrer Homepage dokumentierten Artikel für „Brigitte“), da will ich ihr nichts unterjubeln. Aber Religion beginnt ja nicht erst da, wo jemand „Amen“ sagt, das Kreuzzeichen schlägt oder sich nach Mekka verneigt. Religion beginnt – einen weiten Religionsbegriff vorausgesetzt – mit dem Staunen, mit der Erkenntnis, ach nein, eher der Ahnung, dass es einen Horizont gibt, der alles menschliche Maß und jegliches menschliches Denken übersteigt. Von diesem Horizont, der in den kleinen Dingen des Alltags ebenso verborgen ist, wie in den Wundern der Natur, ist in diesem Buch oft die Rede. „Welch Freudepotential darin liegt, verlieren die Dinge an Selbstverständlichkeit, Allverfügbarkeit, Überfluß. Alles gewinnt Bedeutung und Fokus, alles ist mühsam und somit befriedigend. Bei Seegang erfordert jede schlichte Bewegung Anstrengung; Kaffeekochen, Wäschewaschen, Joghurtbereitung sind herausfordernde Arbeit. In welchem Maße das Privileg eines abendlichen Bieres beglücken kann, daheim machten mich zehn nicht so froh, bloß betrunken. Der Luxus der Reduktion. Die heiße Dusche, die wir gelegentlich in den Gemeindezentren ergattern und uns nur selten an Bord gönnen, das Gefühl frisch gewaschener Haare, der Geschmack eines gefangenen, nicht gekauften Fisches. Kostbarkeiten. Schert einen sowas zu Hause? Überangebot führt zu Inflation, unser Reichtum lässt verarmen. Nach dem Abendessen … lichten wir den Anker.“ (S. 96)
Am Ende muss vielleicht eine Warnung stehen. Tina Uebels Reisebericht weckt (zumindest bei entsprechend empfänglichen Geistern) die Sehnsucht nach Weite, nach Aufbruch – vielleicht letztlich zum alles Begreifen übersteigenden Horizont? – und Abenteuer. Sehnsuchtsfutter, das allerdings hungrig macht.
Tina Uebel: Nordwestpassage für 13 Arglose und einen Joghurt. München, Beck 2013. 399 S., 19,95 € – z.B. bei borro medien erhältlich.